"GLAUBE FORMT GESELLSCHAFT" ANHAND DES SOZIALTHEORETISCHEN ANSATZES JOHANNES MESSNERS

(Kurzreferat am Churer Philosophentag)

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(Padre Alex)


Einleitung
(Auszug aus dem Bericht Hw. Univ.-Prof. Dr. Heinrich Reinhardts über den Philosophentag unter http://www.kath.ch/skz-1997/berichte/be51.htm)

Jeder Glaube, sobald er zu einem vollständig in Bindung auslaufenden Glaubensakt geworden ist, muss sich öffentlich zeigen. Das gehört zum Wesen des Glaubens. Also übt er, gerade als religiöser Glaube, prägende Kräfte auf die Gesellschaft aus. Dies exemplifizierte Lic. iur. can. Alexander Pytlik (Rom) anhand des gesellschaftstheoretischen Ansatzes von Johannes Messner (1891­1984). Unter dem Titel «Glaube formt Gesellschaft» erläuterte Pytlik die wichtigsten Konfigurationen von christlichem Glauben, repräsentiert durch die Katholische Kirche, und säkularer Gesellschaft. Durch seinen klar reflektierten Ordnungsgedanken, der die Mitte hält zwischen ungesundem Supranaturalismus und profanem Naturalismus, kommt Messner zu seiner Lehre von der relativen Autonomie aller Seinsbereiche, also auch der gesellschaftlichen Strukturen. In seinem Denken erhält die Kirche keineswegs eine Über-Kompetenz, die sie zum direkten Eingriff an allen Stellen berechtigte. Infolge ihres übernatürlichen Ursprungs besitzt die Kirche starke, aber stets gestufte Orientierungskräfte, die niemals ohne Respektierung der Freiheit der Individuen wirksam werden. Messner spielt in diesem Zusammenhang zwar die Vision von der «christlichen Gesellschaft» durch, sagt aber sofort dazu, dass diese wegen der erbsündlichen Verfasstheit der Menschheit niemals voll realisierbar ist; sie ist eine produktive Utopie. Staat und Kirche müssen zum gerechten Aufbau einer humanen Gesellschaft in genau beschreibbaren Bahnen zusammenwirken, sollen sich jedoch der Vorläufigkeit alles Menschlichen bewusst bleiben. Die Kirche bekennt gerade in ihrer durch den Pluralismus der Bekenntnisse und Lebensstile ohnehin nahegelegten weisen Zurückhaltung die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes und die klare, durch keine zeitbedingten Faktoren störbare Glaubensgewissheit des Christen. So formt sie im Sinne Christi die Gesellschaft. Es ist ein unauffälliges Formen, weit entfernt vom ständigen Rufen nach dem «weltlichen Arm», aber um so nachdrücklicher: ein Beispielgeben.


Referat

Eure Exzellenz, sehr geschätzte Herren Professoren!

In meinem Beitrag folge ich bekanntlich Johannes Messner, dem großen österreichischen Sozialethiker und Rechtsphilosophen in der Naturrechtstradition, der von 1891 - 1984 lebte und schon in jungen Jahren auf dem Weg zum Priestertum erkannte, wieviel sich in Zukunft im Bereich der Sozialordnung für oder gegen das Christentum entscheiden werde. Ich möchte anhand seines Schrifttums einige kleine Diskussionsanstöße zur Thematik "Glaube formt Gesellschaft" geben. es handelt sich also um keine neue Position von mir, sondern eine treue und volle Verwendung Messners, ein volles Zuwortkommenlassen Messners selbst, wobei ich gemäß meiner Kenntnis der Werke Messners die Jahre 1929 - 1966 unterschiedslos "verwendet" habe, weil sich ja an seinen Grundpositionen kaum etwas änderte, nur die Begründungsart expliziter erfahrungsbezogen wurde und neue Umstände zu differenzierteren Schlüssen nach dem II. Weltkrieg führen mußten.

Als tatsächlich gelebte Wirklichkeit beansprucht Glaube, Religion den ganzen Menschen, so daß die gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche nicht außerhalb ihres Einflusses liegen können. Darum bestehen gute Gründe, von der gesellschaftlichen Formkraft, von der Kulturkraft der Religion zu sprechen. Zunächst ist hier allgemein an die Bedeutung der Religion (für Gesellschaft und Kultur) zu denken. Offensichtlich liegt sie vor allem in der von ihr ausgehenden Verwurzelung der wesentlichen Werte der Tradition und des Ethos im Ewigen, Unbedingten und Unwandelbaren: sie ist also die stärkste Bindungskraft in Tradition und Ethos. Außerdem begründet die Religion als Lebensform gesicherte Überzeugungen über den Daseinssinn des Menschen und seine Stellung in der Welt und damit die nachhaltigste psychologische Antriebskraft im Bereich der wesenhaften Lebenserfüllung nach der einzelmenschlichen wie nach der gesellschaftlichen Seite. Durch die Religion werden dem Menschen ferner Werte erschlossen, die ihn ganz und gar über die Enge seines so leicht in den sinnenhaften Lustwerten sich verfangenden Ich hinausheben und seiner Hingabekraft die höchsten Ziele weisen. Nichts gibt der geistig-schöpferischen Entfaltung des Menschen Ahnungen und Visionen von tiefer erregender Kraft als die Religion, und nichts speist so wie die gelebte Religion dauernd das Reservoir von Spannkraft in Ausdauer und Opferwilligkeit, das für die Ranghöhe der Kultur so entscheidend ist, auch wenn Kulturförderung als solche nicht Zweck der Religion ist, ihr Zweck liegt in der Heilsaufgabe. Tatsächlich erfolgt die Kulturwirkung der religiösen Kräfte vor allem vermittels des Unbewußten, nicht vermittels bewußter Zwecksetzung (im Unterschied zum bewußten und konkreten Einsatz für die Gesellschaftsordnung als solche). Weil und wenn aber ihre Wertwirklichkeiten und Wertziele den ganzen Menschen, sein Denken und Wollen, sein Tun und Leben beanspruchen, wird die Religion allumfassender Lebensgrund der Kultur, ohne daß Kultur bewußtes Produkt der Religion oder Religion unmittelbar Dienstbefohlene der Kultur sein könnte, was nämlich den Verlust ihres jeweiligen innersten Wesens und Wertes bedeutete.

Sieht man in der Religion jedoch nichts anderes als eine der "transzendenten" Bereich, die der Vernunfterkenntnis des Menschen völlig verschlossen sind, dann kann die Religion nur eine Kulturerscheinung neben anderen und das Christentum nur ein Element neben anderen in der (westlichen) Kulturentwicklung bilden.(1) In Wahrheit besteht die entscheidende Bedeutung des Christentums für die Entwicklung der westlichen Kultur in der von ihm ausgehenden Klarheit hinsichtlich der der Transzendenz angehörenden Wahrheiten und Werte und hinsichtlich der sich dem Menschen damit eröffnenden Einsicht in den Sinn seines Daseins und seiner Kultur. J. H. Newman sagt mit hunderten der besten Geister dieses Kulturkreises, daß es dem Menschen die gesicherte Einsicht in das Wesen seiner Natur, ihre Würde und die Richtung ihrer Entfaltung brachte, nämlich "die Sicherung der Wahrheiten des natürlichen Sittengesetzes und der natürlichen Religion", wobei "das erste Gebot des neuen Gesetzes die Liebe ist, nämlich gegenseitiger guter Wille, brüderliche Liebe und Friede"(2). Die genauere Umschreibung dessen, was im Rahmen unserer Thematik Aufgabe der Religion und der religiösen Autorität ist, oder um gleich zum entscheidenden Punkt zu kommen, was in der heute bestehenden geistig-seelischen Lage von ihnen geschehen oder von ihnen erwartet werden kann, gehört zu den schwierigsten Fragen der Ethik. Der bloße Appell zur "Rückkehr" zum Christentum ist schon deshalb keine Lösung, weil die seelisch-geistigen Voraussetzung dafür fehlen, daß er, an die Allgemeinheit gerichtet, auf fruchtbaren Boden fallen kann, zumal außerdem "Rückkehr" auch an historische Formen erinnert, in welche die Religion als gelebte Wirklichkeit eingehen muß, welche aber gerade das nicht sind, worauf es heute bei der religiösen Erneuerung und ihrer Bedeutung für Gesellschaft und Kultur ankommt. Wegen der innersten Verflechtung von Religion und Kultur wird die Ethik mit geschärftem Blick auf das achten müssen, was in der Beziehung der beiden im Bereich des Wesenhaften und was im Bereich des geschichtlich Bedingten liegt. Denn gerade wegen der Geschichtlichkeit der kulturellen Lebensform, in die die Religion in das seelisch-geistige Wesen eines Volkes eingehen muß, um zum Lebensgrund seiner Kultur zu werden, "kann die Überzeugung, daß Religion von einem Gesichtspunkt aus Kultur ist und Kultur von einem anderen Gesichtspunkt aus Religion ist, sehr beunruhigend sein"(3) - die Forderung zu kritischer Umsicht, die T. S. Elliot mit diesen Worten an die kulturphilosophische Analyse stellt, hat für die Ethik erhöhte Geltung.

Ganz allgemein wird zunächst darauf zu achten sein, daß mögen auch enge Wechselwirkungen zwischen Kultur und Religion bestehen, beide im Grunde verschiedenen Ordnungen angehören und verschiedenen Zielen zugewendet sind, die erstere wandelbaren, bedingten, vorläufigen, geschichtlichen, diesseitigen, die letztere unwandelbaren, unbedingten, endgültigen, ewigen, jenseitigen. Die Religion kann nicht einfachhin in den Dienst der kultur- und gesellschaftsgestaltenden Mächte einer Zeit treten, ohne ihrer eigentlichen Aufgabe der Wegweisung zu den zeitlosen Zielen zu entsagen. Sie kann schon gar nicht den wandelbaren Werten kultureller Lebensformen eine unbedingte Gültigkeit geben, ohne damit auf ihren Anspruch als Hüterin überzeitlicher, unwandelbar gültiger Werte zu verzichten. Daher ist die politische Bindung der Religion, etwa in der Form der in der Zeit des Absolutismus behaupteten Unzertrennlichkeit von "Thron und Altar", ebenso bedenklich wie die Behauptung wesentlicher innerer Zuordnung geschichtlicher Wirtschaftsformen zu einer Religion, etwa der mittelalterlichen Zunftordnung zum Christentum, als einer innerlich der christlichen Lebensordnung wesensgemäßen Form der Sozialwirtschaft.

Noch mehr verbietet aber das Wesen der Religion und der religiösen Autorität, die einer säkularisierten Geistigkeit entstammenden Kultur- und Sozialideen einer Zeit zum Gegenstand ihrer Heilsverkündigung zu machen. Nicht weniger als dies wurde im 19. Jahrhundert mit dem Ruf nach einem "Kulturchristentum" verlangt und nicht weniger als das wurde auch oft mit dem Ruf nach einem "Sozialchristentum" verstanden. Sprach man im 19. Jahrhundert davon, das Christentum müsse eine Existenzberechtigung durch eine Wirksamkeit im Sinne des damaligen rationalistisch-liberalistischen Kulturgedankens unter Beweis stellen, so wurde dann von verschiedenen Seiten dem Christentum gesagt, seine Daseinsberechtigung und seine Zukunftsaussichten hinge davon ab, daß es sich in den Dienst kollektivistischer Sozialbewegungen stellte.

Was ist denn die tatsächliche Aufgabe der Religion hinsichtlich der Kultur und der Gesellschaft? Außer Frage zu stehen scheint, daß der Religion und der religiösen Autorität als solcher eine unmittelbare Aufgabe oder Zuständigkeit auf kulturellem Gebiet nicht zukommen, weder auf politischem, sozialem, künstlerischem oder geistigem. Ihre Heilsaufgabe betrifft die endgültigen unter den existentiellen Zwecken des Menschen. Wie sie dabei an keine gesellschaftlichen Lebensstile und kulturellen Ausdrucksformen gebunden ist, ist sie auch nicht zuständig, solche vorzuschreiben. Geschichtlich gesehen ist aber nichts gewisser, als daß die Religion und darunter besonders das Christentum, Kultur im eigentlichsten Sinne erzeugt, Lebensstile und Kunstformen geschaffen hat. Es geschah dadurch, daß Vorstellung, Denken und Fühlen der Menschen, eingewurzelt, wie er war, in den das ganze Leben durchwirkenden religiösen Lebensgrund ihren Ausdruck im ganzen Umkreis des kulturellen Lebens suchten, im gesellschaftlichen ebenso wie im geistigen. Es geschah aber in einer Art unbewußter schöpferischer Entfaltung jenes Lebensgrundes, keineswegs in irgendwelchen von der religiösen Autorität befohlenen Kunststilen oder von ihr geplanten Gesellschaftsstilen.

Religion und religiöse Autorität können, gerade wenn ihr Verhältnis zur Kultur in Frage steht, gar keine andere Aufgabe von entscheidenderer Bedeutung haben als die ihnen wesenseigene Heilsaufgabe: vom Ausmaß der Erfüllung dieser Aufgabe hängt es ab, wieweit der Urgrund einer Kultur selbst lebendig und zeugungskräftig ist und bleibt. Die in den jeweiligen geschichtlichen gesellschaftlich-kulturellen Lebensformen verbundenen Menschen ganz allgemein, besonders aber die für die Gesellschaftsgestaltung und Kulturentwicklung vor allem verantwortliche Schichte ("Elite") einzuwurzeln in den religiösen Lebensgrund, mit anderen Worten, selbst zu einer Lebenswirklichkeit zu werden, ist die entscheidende Kulturaufgabe der Religion.

Neben dieser unmittelbaren Aufgabe tritt eine Fülle von Aufgaben mittelbarer Art für die Religion in ihrem Verhältnis zur Kultur. Der Grund besteht darin, daß der religiös-sittliche Endzweck des Menschen mit seinen übrigen existentiellen Zwecken, also auch den gesellschaftlich-kulturellen, sowohl nach der Seite seines Anspruchs wie nach der Seite seiner Verwirklichung engstens verknüpft ist. Weil er dem Menschen in keinem Lebensbereich gestattet, sich selbst Gesetz zu sein, läßt er keine Trennung von Religion und Kultur zu. Daher fallen die kulturellen Lebensordnungen mittelbar ("indirekt") in die Zuständigkeit der Religion und der religiösen Autorität: ihre Zuständigkeit ist es, das Gewissen der Gesellschaft zu sein, zu urteilen oder auch zu verurteilen, soweit die gesellschaftlich-kulturellen Formen oder Einrichtungen den davon abhängigen Menschen oder Gruppen die Erfüllung existentieller Zwecke in höherem oder geringerem Maße erschweren.

Das ist aber nur die eine Seite der mittelbaren Kulturaufgabe der Religion. Geht der Blick nur nach dieser Richtung, dann kann sehr leicht der Eindruck einer überwiegend negativen Haltung entstehen, was Newman eine Art von "Nihilismus" nannte, der "verbietet, aber nicht weiter führt oder schöpferisch wirkt"(4). Diese Gefahr ist dann vorhanden, wenn nicht gleichzeitig eine starke schöpferische Kraft eines Großteils aller Schichten der Gesellschaft, besonders auch einer geistigen Elite, vorhanden ist, die aus der voll gelebten religiösen Wirklichkeit erwächst und in alle Kulturbereiche hineinwirkt, in den geistigen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen. Die Kulturaufgaben als Aufgaben der religiösen Verantwortung sind somit solche der Laien. Ihnen fällt es zu, vom religiösen Gewissen her wirklichkeitsnahe Lösungen in der jeweiligen Kultursituation zu finden und zu verwirklichen. Sie mißverstehen ihre Aufgabe, wenn sie in der Kulturkrise und beim Versgen der Gesellschaft in ihren Grundordnungen nach der religiösen Autorität ("Kirche") rufen und von ihr die Verkündigung neuer Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme erwarten. Sie verlangen von der religiösen Autorität etwas, wozu diese nicht zuständig ist, etwas, was die sittliche Aufgabe der durch ihre Berufsarbeit am Lebensprozeß der Kultur unmittelbar Beteiligten ist. ---> "zu sehen, wie sehr die Kirche in den letzten Jahrhunderten sich mehr und mehr von der unmittelbaren Leitung aus den profanen Kulturgebieten zurückzog, besonders auffällig aus dem politischen Leben, in dem Bewußtsein, daß die nicht in die ihr von ihrem Stifter übertragene Mission fällt, ja daß sie die mit einer solchen Leitung zusammenhängende Verantwortung gar nicht übernehmen darf, und zwar gerade im Interesse ihrer eigentlichen Aufgabe und ihrer besonderen Mission. Aber auch aus dem Grunde, weil alle einzelnen Gebiete des Lebens die Kräfte für die Erreichung ihrer besonderen Zwecke in sich tragen, vom Schöpfer in sie hineingelegt, und daß ihnen auch besondere Gesetze vorgeschrieben sind, ebenfalls von ihrem Schöpfer, denen sie zu folgen haben in der Verfolgung ihrer besonderen Ziele."(5)

"Das heißt aber vor allem, daß wir Katholiken bei Meinungsverschiedenheiten in Angelegenheiten rein politischer, sozialer, ästhetischer, wissenschaftlicher Natur und bei sachlichen Auseinandersetzungen viel weniger an religiöse Ideen und an das sittliche Gewissen appellieren sollten, sondern an sachliche Gründe."(6) "Für die katholische Gesellschaftsauffassung besagt dies, daß ihr Grundprinzip, die Suprematie des Religiösen, sich in allen Ordnungen des gesellschaftlichen Lebens zeigen muß, daß das Katholische immer streben wird, von innen her diese Ordnung zu bestimmen und ihnen Form und Gestaltung zu geben, daß man darum ebenso sehr von einer Eigengesetzlichkeit des Katholischen sprechen kann, wie man von einer Eigengesetzlichkeit der profanen Kulturgebiete spricht, ja, daß im Sinne der katholischen Gesellschaftslehre, wesenhaft beide aufeinander bezogen sind, eine Bezogenheit, die im Verhältnis von Natur und Uebernatur immer ihre tiefste Erklärung finden wird, wonach die letztere die erstere nicht aufhebt, sondern voraussetzt und zugleich vollendet, weil beide aus der Hand des einen Gottes hervorgegangen und aufeinander zugeordnet sind."(7) Messner fordert hier eine Wirkkraft der katholischen Gesellschafts- und Kulturauffassung nach dem bekannten Satz der philosophia perennis, wonach die volle Verwirklichung eines Zweckes am Ende steht, dieser selbst aber in der Absicht und Tätigkeit dessen, der ihn erreichen will, von Anfang an wirksam ist (Finis, etsi sit postremus in executione, est tamen primus in intentione agentis, et sic habet rationem causae). "Worauf eben hingedeutet wurde, ist eine nun schon allen geläufige Erkenntnis, daß sich nämlich in den Formen gesellschaftlichen Lebens der Geist einer Gesellschaft in solcher Weise verfestigt, daß diese Formen selbst wieder den Menschen den Geist der Gesellschaft aufdrängen."(8) "die Eigengesetzlichkeit des Katholischen soll sich (also) wieder auswirken und mit ihren Kräften alle Ordnungen und Gebiete des öffentlichen Lebens durchwirken, bis sich wieder eine christliche Welt in ihrem ganzen öffentlichen Leben, in ihrem kulturellen und in ihrem wirtschaftlichen Streben, in ihrem politischen und sozialen Sein zu ihrem Gott bekennt. Ist das aber nicht Utopie? Der heutigen Welt gegenüber? Einer gottlosen Gesellschaft gegenüber? Einem neuen Heidentum gegenüber? Es ist nur dann Utopie, wenn der Aufbruch der Zwölf aus Jerusalem, die zuerst den Auftrag erhalten haben, hinzugehen und alle Völker zu lehren, Utopie war. Heute stehen ungezählte Tausende von Gotteshäusern unter den Völkern der Erde"(9)

Während der neuzeitliche Naturalismus die absolute Eigengesetzlichkeit in den Bereichen von Politik, Wirtschaft und Kultur behauptet hat, wollen Vertreter eines falschverstandenen Supernaturalismus alle Kulturbereiche, nicht zuletzt Politik und Wirtschaft, ganz zu Gebieten einer auf die übernatürliche Offenbarung und Religion begründeten Ethik machen. In Wahrheit brauchen alle diese Wissens- und Tätigkeitsbereiche nur die Unterordnung ihrer besonderen Zwecke unter die Zweckordnung des Naturgesetzes zu beachten und haben im weiteren das Recht und sogar die Pflicht, nach den besten Wegen und Mitteln zur Erreichung ihrer Ziele zu suchen. Während also der Naturalismus die causae secundae, die geschaffenen Ursachen, unabhängig machen möchte von der causa prima, dem Schöpfer, neigt der Supernaturalismus zur Verkennung der in den causae secundae begründeten (lediglich) "relativen Eigengesetzlichkeit". (Die Folge ist, daß nur eine theologische, auf das geoffenbarte Wort Gottes begründete Ethik anerkannt wird.) Ein Supernaturalismus besonderer Art wird von der einen oder anderen Gruppe auf katholischer Seite in der Form eines "Integralismus" vertreten mit der Forderung, daß im politischen und sozialen Bereich alles unter die "direkte" Autorität der Kirche zu stellen sei, so Messner 1966. Würden die Kirche und ihre Diener einen solchen Anspruch auf eine direkte Gewalt in diesen Bereichen erheben, dann wäre der Vorwurf des sog. "Klerikalismus" gerechtfertigt nach Messner.(10) Es ergibt nur soweit eine - wir können sagen - "direkte" Zuständigkeit der Kirche im politische Bereich, als im Leben und in der Tätigkeit des Staates die absoluten existentiellen Zwecke des Menschen betroffen sind und daher der Sendungsbereich der Kirche in Frage steht. Die Tatsache, daß eine namhafte Zahl von Nichtkatholiken auf Seite der Alliierten während des zweiten Weltkrieges die katholische Kirche heftig anklagten, weil sie von dieser Jurisdiktion nicht Gebrauch achte, zeigt einwandfrei, daß auch außerhalb der traditionellen Naturrechtslehre über die Tragweite der kirchlichen Jurisdiktion kein Zweifel besteht. Nur übersehen die Ankläger, daß es sich bei dieser Jurisdiktion der Kirche ausschließlich um die beste Wahrung der geistlichen Interessen aller ihrer Glieder unter den gegebenen Umständen handelt und eben nicht um politische Interessen. Der direkte Eingriff in den Gewissensbereich, wie er z. B. durch Entbindung vom Treueid gegen den Fürsten im ungerechten Krieg möglich war, ist jedoch nicht der einzige Weg der Ausübung der Vollmacht der Kirche gegenüber dem politischen Bereich, wenn der religiöse oder sittliche berührt wird. Ein anderer ist der Aufruf der Gewissen durch die öffentliche Erklärung der Kirche über die Unvereinbarkeit politischer Prinzipien und Handlungen von Regierungen mit religiösen und sittlichen Rechten. Ein dritter, von der katholischen Kirche besonders zu pflegender Weg wäre - wie schon gesagt - die systematische Schulung der Laien für die Ausübung ihrer Verpflichtungen im bürgerlichen und beruflichen Leben, um dadurch eine erneute Wirksamkeit der religiösen und sittlichen Prinzipien in der säkularisierten Gesellschaft zu erzielen, von Pius XI. im erörterten Sinne definiert als "die in der Gesellschaft wirkende Kirche". Schon 1929 hatte ja Johannes Messner in seinem kleinen Büchlein "Der Weg des Katholizismus(11) im XX. Jahrhundert" geschrieben: "weitere Generationen werden arbeiten, bis der Beginn einer Verwirklichung des Programmes der christlichen Demokratie sichtbar sein wird im geistig-kulturellen, im öffentlich-politischen, im wirtschaftlich-politischen Leben, bis das Christentum wieder der nährende Boden unseres gesamten kulturellen und gesellschaftlichen Lebens sein wird, bis auf diesem Boden ... eine neue christliche Gesellschaft sich zu ihrem Gott halten wird. Der Weg dahin, der Weg des Katholizismus im 20. Jahrhundert wird aber die Katholische Aktion sein."(12) "d. h. daß der Christ nicht nur Christ sein will in seinem Herzen und vielleicht noch innerhalb der vier Wände der Kirche, sondern ebenso und vornehmlich auch in seiner ganzen Einstellung zum Leben, in der ganzen Sinngebung der Welt, der Kultur, des Staates, in seinem Berufe und an dem Platze, an dem er in der Gesellschaft steht, kurz als ganzer Mensch"(13) "Es ist nicht zu leugnen, daß der Vereinskatholizismus in seinem Ungeist vielfach eine Belastung des Wirkens der Kirche in der Gesellschaft darstellt und der Umschlag des ... Kirchenkatholizismus in den Vereinskatholizismus mit seinen Festfeiern, Theateraufführungen und gemeinsamen Ausflügen zum großen Teil ein Mißverständnis der Zeitaufgaben des Katholizismus war."(14) "Unser Glaube selbst muß darum zunächst die ursprüngliche, selbstsichere, universale Übernatürlichkeit der Betrachtung der Welt und der Gesellschaft zurückgewinnen, um dem Versinken der Welt und der Gesellschaft ins Diesseits zu steuern (...) Das ist Weltanschauung in des Wortes eigentlichster Bedeutung: genommen als Betrachtung der Welt und des Lebens von bestimmten Grundwahrheiten aus, katholische Weltanschauung als Betrachtung der Welt aus den Tatsachen und Wahrheiten der Erschaffung der Welt durch das Wort des Herrschaftsanspruches des Menschensohnes an die ganze Welt und alle ihre Lebensbereiche."(15)

"Ist es nicht so, daß man mit starkem Nachdruck und mit gewiß berechtigtem Selbstgefühl immer wieder betonte, wir Katholiken besäßen die die gesellschaftliche und kulturelle Krise heilenden Kräfte, daß man aber vielfach gemeint hat, damit sei es schon getan? Als ob nicht erst der Eingang dieser Kräfte ins Leben jene heilbringende Wirkung hätte, die wir brauchen! Und hat man sich nicht allzusehr mit bloßer Freude am Besitz der rettenden Ideen und Werte zufrieden gegeben? Als ob nicht der Einsatz dieser Ideen und Werte in der Wirklichkeit das Entscheidende wäre! Und hat man nicht zu sehr nur 'Ideenpolitik' getrieben und allzu verächtlich auf die 'Realpolitik' herabgeschaut, während doch die hier gemeinten Ideen gerade dazu da sind, verwirklicht zu werden, d. h. reale Gestalt im Leben anzunehmen durch eine christliche Realpolitik. (...) Denn sobald man vom rein metaphysischen Bereich in die wirkliche Welt übertritt, d. h. in die Welt der sittlichen Aufgaben und des sittlichen Handelns, ist die entscheidende Frage die, wie diese Ideen und Werte Gestalt annehmen solle in diesem Leben, wie weit wir sie im einzel-persönlichen und im gesellschaftlich-öffentlichen Leben zu verwirklichen vermögen, namentlich wo die Ansatzpunkte sind für diese Verwirklichung (...) Die eine Gefahr ist also die, daß das zu starke Verweilen im rein Ideologischen nicht so zur 'Arbeit in der Welt' kommen läßt, wie sie doch unsere Pflicht wäre nach dem Missionsauftrag des Meisters (...) Noch eine zweite Gefahr ... darf nicht übersehen werden. Der einseitige Blick auf das ideale Reich der Wahrheiten läßt gerne die wirkliche Welt allzu schwarz erscheinen (...) das Entscheidende ist ... nicht die Kritik, sondern daß man positiv erkenne und sage, was wir vom katholischen Gedanken her zu geben haben, wie wir dies aus dem bloß ideologischen Dasein in die Wirklichkeit überführen, wo die Ansatzpunkte in der heutigen Welt für diese Verwirklichung sind. Ist es nicht Tatsache, daß die ... einseitige Kritik im außerkatholischen Lager überhaupt nicht gehört und schon gar nicht beachtet wird? Und birg die einseitige, fast ganz im Negieren aufgehende Kritik nicht die weitere Gefahr eines gewissen Fatalismus in sich, der vom Gedanken bestimmt ist: die Welt ist schlecht, es nützt doch nichts! (...) während doch ... echter, christlicher und katholischer Geist doch der ist: überall zu helfen, wo Irrende sind, und der menschgewordenen Liebe den Weg zu den Menschen und zur Gesellschaft zu bereiten. - Dies ... ist der tiefste Sinn von dem ... Ruf .. nach der Katholischen Aktion!"(16)

Damit zeigt sich eine andere mittelbare ("indirekte") Aufgabe der religiösen Autorität (hinsichtlich der Kultur) in ihrer ganzen Bedeutung: die Aufgabe, die Gewissen zu bilden, sie wach zu erhalten und bereit zu machen für die voll verantwortungsbewußte Arbeit an der Gestaltung der gesellschaftlich-kulturellen Lebensordnungen nach den Forderungen des sittlichen Gewissens. Diese Gewissensbildung muß einsetzen schon im Jugendalter und muß fortgehen mit übrigen Heilsverkündigung und Gewissensbildung durch das weitere Leben des Menschen. Geschieht dies nicht, dann darf es nicht wundernehmen, wenn die Religion weithin nur als etwas für den Sonntag empfunden wird, das im Alltag, der dem Kulturschaffen gilt, nichts zu tun hat, ganz abgesehen davon, daß "offiziöse" Erklärungen der religiösen Autorität hinsichtlich der gesellschaftlich-kulturellen, besonders politischen, wirtschaftlichen und sozialen Fehlentwicklungen kein Gehör finden. Auf die gleiche Ursache geht wenigstens teilweise der oft in Zeiten von Religionskrisen wie von Kulturkrisen auftretende religiöse Spiritualismus zurück. Danach sei die Religion ihrem ganzen Wesen nach ins seelische Gebiet verwiesen, habe jegliche "Verquickung" mit den gesellschaftlich-kulturellen Lebensordnung zu vermeiden und sich ausschließlich der mit dem Endzweck des Menschen befaßten Heilsaufgabe zu widmen. Manche Vertreter solch spiritualistischer Auffassungen der Religion sehen im völligen Rückzug derselben aus der politischen und sozialen Ebene und in ihrem Aufsteigen zu einer angeblich "reinen" Form(17) die sich in der geschichtlich-kulturellen Entwicklung vorbereitende und von ihr geforderte "höhere" Stufe von Religion. Genau so viel, wie die Forderung nach einem "Kulturchristentum" nach der einen Seite zu weit ging, geht die spiritualistische nach einer Art (vielleicht auch ungewollten) "Sakristeichristentum" nach der anderen zu weit: mit jenem ist die Kulturaufgabe zur ersten unmittelbaren Aufgabe der Religion gemacht, mit letzterem ihr jede, auch eine mittelbare Kulturaufgabe, abgesprochen.(18)

Gelebte Religion ist immer erhöht gelebte Sittlichkeit, lebendige Sittlichkeit immer wirkkräftige Haltung gegenüber dem Mitmenschen, also "Nächstenliebe". Weil Kultur im Grunde "Menschlichkeit" ist, muß daher gelebte Religion in vielfältigen, von der Nächstenliebe befohlenen Weisen zu Kulturwirkungen führen, in so vielen Weisen, als sie einer durch die Sozialordnung augenblicklich oder überhaupt unheilbaren, aber von der "Menschlichkeit" nicht zu verantwortenden Bedürftigkeit begegnet. Die Größe der Aufgabe hat immer wieder zu Formen der organisierten Nächstenliebe, karitativen Organisationen, gedrängt. Aufgaben von weittragendster Bedeutung scheinen solchen Formen der Nächstenliebe in der heutigen Kultur- und Sozialkrise zu erwachsen. Wenn wir beobachten, so Messner, wie die gewaltigen, von der mittelalterlichen Christenheit erbauten Kathedralen, die angesichts der damaligen Wirtschaftskraft der Völker einzigartige, die schöpferische Lebenskraft ihres Geistes bezeugende Leistungen sind, heute noch immer über die Industrie- und Bankpaläste der modernen Großstadt hinausragen, so drängt sich die Frage auf, ob nicht auf karitativem Gebiete ein Geist zu erwecken wäre, der einmal zu ähnlichem Ruhm Anlaß werden könnte, heute aber an einer religiösen Erweckung teilhaben könnte, die mit den bisherigen Mitteln nicht erreichbar zu sein scheint. Messner dachte an ausgedehnte Formen der Sozialkaritas (natürlich ohne Formen der Individualkaritas zu vernachlässigen, die, auf Opferkraft der einzelnen begründet, die Hilfe für einzelne und Einzelfamilien zum Ziel hat). Die wichtigste Aufgabe der Sozialkaritas bleibt eine umfassende Mitwirkung bei der Lösung der für die Bewältigung der gegenwärtigen Kulturkrise so entscheidend wichtigen Beschaffung von Wohnungen, die der Familie, dem Mutterboden aller Kultur, die Erfüllung ihrer moralischen und kulturellen Aufgaben ermöglichen.

Wenden wir uns noch der andauernden Kulturkrise des Westens zu, so wird man Dawson zustimmen, wenn er das meiste von der Erziehung zu einer Rückbesinnung auf die Werte erwartet, die den Wurzelgrund der westlichen Kultur eigentlich bilden und in Verbindung damit der Religion, nämlich dem Christentum, eine entscheidende Rolle zumißt. Die Aufgabe geht alle an, die an der Verantwortung für die Erziehung beteiligt sind, Kirche und Staat, Elternhaus und Schule, Hochschule und Volksbildungseinrichtungen. Die Schwierigkeiten dürfen indessen nicht übersehen werden. Großteils müßten erst die Erzieher selbst für diese Aufgabe erzogen werden. Aber nicht nur fehlt einem Großteil der in den genannten Institutionen für die Erziehungsaufgaben Verantwortlichen der Blick für die fraglichen Werte, es fehlt noch viel mehr, nämlich der Wille, sich noch einmal von der Gültigkeit jener Werte und ihrer Bedeutung für die Überwindung der gegenwärtigen Krise überzeugen zu lassen. Dies trifft besonders zu, wenn jene Werte zu sehr in Verbindung mit geschichtlich gebundenen Lebens- und Kulturformen gedacht werden. Auf solche Weise kann sogar die Gefahr eines zu sehr historisch gebundenen Denkens entstehen: daß, wie schon angedeutet, mehr an einer "Rückkehr" anstatt an eine neue religiöse Lebenswirklichkeit gedacht wird.

Die andere Art "historischen Denkens" sieht mit Augustinus stärker das den Kulturen eigene geschichtsbedingte Wesen im Gefolge ihres Aufstiegs und Niedergangs, die Religion selbst aber als das Um und Auf der Geschichte. Keineswegs wird in dieser geschichtlichen Sicht die Verantwortung und Aufgabe der Religion und nun ganz eigentlich des Christentums (und seiner kirchlichen Gemeinschaften) angesichts der gegenwärtigen Krise der westlichen Kultur eine geringere, sie wird eine viel schwerere: sich selbst ganz und gar auf ihren Wesensgrund und ihre ursprünglichen Lebenskräfte zu besinnen angesichts der unvermeidlichen Verflechtung mit historischen Elementen eine Kultur, deren Schicksal zu innerst fraglich geworden ist, und sich damit für die weltgeschichtlich neue Aufgabe, die sie erwarten, vorzubereiten. Dabei dürfen wir wohl nicht übersehen, daß zum offensichtlichen Unterschied von allen anderen Religionen das Christentum, und unter seinem Einfluß die westliche Kultur, ganz und gar dynamischen Wesen sind, und zwar weil die Kirche Christi über innere Erneuerungskräfte verfügt, wie Messner betont, die nicht nur Kulturkrisen zu überdauern, sondern gerade durch den Druck von Kulturkrise zu neuem, tieferem und reicherem Aufquellen gebracht werden können. Eine Hoffnung wird dies nicht schon dadurch, daß nur nach der Rechristianisierung gerufen wird, etwa gar nur in der Form, daß, wenn sie nicht erfolgt, unsere Gesellschaft und Kultur verloren sind, besonders wenn dies von seiten jener geschieht, denen die Mitwirkung an der Verwaltung jener Werte und Kräfte anvertraut ist. Ihre Sache ist die Rechristianisierung selbst, nicht die bloße Aufforderung dazu, verbunden mit Kassandrarufen Neue Wege werden dabei zu finden und zu gehen sein. Der Jonas jedoch, der heute nur mit der Prophezeiung des Untergans zur Umkehr rufen und dann sich auf die Anhöhe außerhalb des verlorenen Ninive setzen zu können glaubt, um das über die Stadt kommende Gericht beobachten zu können, hat seinen Auftrag offenbar schlecht verstanden. Nach Messner jedoch hat Spengler übersehen, daß das Christentum also selbst unversieglich die Kraft der Selbsterneuerung in sich trägt und damit auch der ihm verwachsenen Kultur immer wieder eine neue Zukunft zu geben vermag, das sollte die "westliche" Kultur von allen vorchristlichen Kulturen unterscheiden. Die abendländische Kultur in sein Schema des unausweichlichen Prozesses des Werdens und Vergehens der Kulturen eingereiht zu haben, ist der Grundirrtum Spenglers. Nicht, daß er auf keinen Fall recht behält mit seiner Untergangsprophezeiung für das Abendland und die westliche Kultur. Ebenso gewiß ist aber der mit den Werten und Kräften des Christentums verbundene Missionsauftrag immer ein solcher der Erneuerung, daher immer zur Hoffnung auch "gegen alle Hoffnung" verpflichtend, also nie den endgültigen Rückzug mit der Begründung der Aussichtslosigkeit angesichts der Verhältnisse gestattend.

Messner erkennt in einem Zitat Peter Wusts eines der wenigen Kulturgesetze, um die wir wissen: "Wo der Mensch mit seinem Glauben an die Macht positiver Ideen versagt, da beginnen die Dinge dem Menschen das Gesetz der Entwicklung zu diktieren, und das Merkwürdige ist dabei, daß sie immer nihilistische Persönlichkeiten für ihr Zerstörungswerk finden, wo die aufbauenden Persönlichkeiten fehlen."(19)

Glaube formt Gesellschaft, direkt und indirekt? Für Messner sind dabei die Bereiche staatliche Ordnung, wirtschaftliche Ordnung, soziale Ordnung und Volksordnung (und damit verwoben die Kultur) zu beachten. Auf alle diese kann sich der Glaube indirekt durch eine betont glaubensgestützte Sozialreform auswirken. Es muß jedoch gesagt sein, daß die leitenden naturrechtlichen Prinzipien noch nicht und an sich Eigengut des Gläubigen darstellen, jedoch durch die Gläubigen vermehrt, überzeugter und gefestigter einzubringen sind, eingebracht wurden und eingebracht werden können. Wenn es auf das Gespräch des Christentums mit der Welt ankommt, dürfte dem naturrechtlichen Denken eine unumgängliche Funktion zukommen. Mit J. Leclercq, dem bekannten Löwener Professor, wollte Messner festgehalten wissen: "Da vier Fünftel der Welt unserem Einfluß entzogen sind, muß man sich da nicht, wie Pius XII. unermüdlich wiederholte, auf den Boden der natürlichen Moral und des Naturrechts stellen, in denen alle Menschen übereinstimmen können? Nur so ist ein wirksames Handeln auf Weltebene möglich."(20) In dieser Weltlage dürfte nach Messner der natürlichen Ethik und dem Naturrecht geradezu "eine missionarische Aufgabe" zufallen, wobei sich wieder einmal die philosophia als ancilla theologiae im besten Sinn erweisen würde, nämlich im Dienste der Verkündigung der Frohbotschaft und im Dienste des Kommens des Reiches Gottes, wie Messner es 1966 zu formulieren wagte.(21)

Die Gesellschaftsordnung, soweit die existentiellen Zwecke des Menschen in Frage stehen, ist Teil der sittlichen Ordnung. Die Mitwirkung der Kirche ist für die Erreichung der wesenhaften Ziele einer Sozialreform unerläßlich. Die Kirche ist kraft ihrer Mission zur Hüterin des Sittengesetzes berufen und daher die Hüterin des Gewissens der Gesellschaft. Sie hat daher das Recht und die Pflicht, ihre Stimme mahnend und warnend zu erheben, wenn die Gesellschaft von der natürlichen Ordnung abgeht und in ihren den existentiellen Zwecken des Menschen verpflichtenden Grundfunktionen versagt. Die Zuständigkeit der Kirche ist folglich nicht auf die bloße Verkündigung des Sittengesetzes beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die Bewertung der das Wirtschaftsdenken und die Witschaftspolitik bestimmenden Prinzipien, soweit davon das Sittengesetz berührt wird. [Evtl. Dialog für Österreich einbauen? ->] Auch ist es Aufgabe der Kirche, die Institutionen eines Sozialsystems sittlich zu beurteilen, soweit diese sich mit den natürlichen Rechten nicht vertragen; man denke an Erziehungseinrichtungen. Die Zuständigkeit der Kirche erstreckt sich daher auf die beiden Seiten der Sozialreform, die geistige und die institutionelle, allerdings nur, soweit das Sittengesetz in Frage steht; es ist nicht ihre Sendung, sich mit Dingen bloß technische oder organisatorischer Art im politischen und wirtschaftlichen Leben zu befassen.(22)

Die Kirche ist indessen nicht nur die von Gott eingesetzte Lehrerin und Auslegerin des Sittengesetzes. Ihre Berufung zur Mitarbeit an der Lösung der sozialen Frage geht weiter. Das Versagen des sittlichen Urteils der Menschen und der Gesellschaft ist nur eine Seite der Folgen der Erbschuld, in der die letzte Ursache der sozialen Frage zu suchen ist. Die andere Seite besteht in der Wirrnis der menschlichen Triebe und Leidenschaften, im Egoismus, in der Habsucht, im Hochmut, im Machtwillen mit allen ihren zersetzenden Wirkungen auf die Sozialordnung. Die Gesellschaft ist somit auf die Kirche nicht nur als Hüterin des Sittengesetzes, sondern auch als Quelle sittlicher Erneuerung angewiesen. Die Kirche ist dies vermöge der ihr anvertrauten Gnaden und Kräfte der Erlösung, d. h. der Übernatur.

Die Menschheit befindet sich nämlich ständig in Gefahr (und wir schon längst so weit), daß nämlich ihr sittlicher Fortschritt von ihrem wissenschaftlichen Fortschritt überholt wird. Die ungeheuer anwachsenden Kräfte, die der Fortschritt der Wissenschaften in die Hände des Menschen legt, werden nur dann zum Wohl des Menschengeschlechtes ausschlagen, wenn seine sittlichen Kräfte entsprechend wachsen. In zunehmendem Ausmaß ist daher der soziale Fortschritt an den sittlichen Fortschritt gebunden, so ist Messner überzeugt.(23)

Im soziologischen Sinn sind Ideologien Anschauungen über die Natur und den Zweck des Menschen und der Gesellschaft, die Einfluß auf die Gestalt und das Funktionieren der Gesellschaftsordnung haben.(24) (Wohl ist die Wechselbeziehung zwischen den "ideologischen Formen", die ein Sozialsystem kennzeichnen, und seinen ökonomisch-technischen Grundlagen nachgewiesen, nicht minder aber, daß die ersteren ursprünglicher Natur sind und daher von sich aus bestimmenden Einfluß auf die Gestaltung des Sozialsystems üben. Der Marxsche historische Determinismus leugnet(e) nicht die Wirkkraft der "ideologischen Formen" auf die Gesellschaft; was er leugnet ist, daß "ideologische Formen", also Ideen und Werte, unabhängig von den wirtschaftlichen Produktionskräften bestehen und Geltung haben. Obwohl im Grunde irrig, veranlaßte die Marxsche Theorie eine genauere Erforschung der Wechselbeziehungen zwischen den ideologischen und den ökonomischen Formen als Wirkkräften im Leben und in der Entwicklung der Gesellschaft sowie die genauere Untersuchung des Ursprungs, der Wirkungsweise und der Einflüsse der ideologischen Formen.)(25) Messner interessieren hier die ideologischen Mächte wegen ihrer Wirkung auf die Gesellschaftsordnung. Alle Ideen und Werte und somit Zwecke, die einen gestaltenden Einfluß auf das Funktionieren der gesellschaftlichen Ordnung ausüben, faßt er soverstanden als "das Ideologische" zusammen. Das Ideologische ist daher hier als bestimmender Faktor im Sozialsystem gesehen; andere Gruppen solcher Faktoren sind das Institutionelle, die Abneigung gegen Änderungen in der gewohnten Lebensweise, die politischen Kräfte mit dem Streben nach Herrschaft und Macht in einer Gemeinschaft, die technischen Kräfte in ihrer Auswirkung auf sozialwirtschaftliche Kooperation. Das Ideologische umfaßt nicht nur die im Vordergrund des Bewußtseins einer Gesellschaft stehenden Ideen, sondern mindestens gleicherweise jene, die in Sitten, Brauchtum und überhaupt im Volkstum wirksam sind und die tatsächlich im Konflikt mit anderen gestaltenden Kräften eine gewaltige Macht besitzen. Nur wenn das Ideologische eine Wirkung auf ihre Gesellschaft Einfluß gewinnt, übt das Ideologische eine Wirkung auf ihre Gesellschaftsordnung aus. Die moderne Technik macht die Verwendung des Ideologischen durch die verschiedenen Arten der Propaganda zu einem der mächtigsten Mittel der Gestaltung und Leitung der Gesellschaft.

Kein Gesellschaftssystem ist nur durch eine Ideologie allein geformt. Das Ideologische wirkt immer nur als Resultante von verschiedenen gegensätzlichen ideologischen Richtungen. Kein Gesellschaftssystem ist in Wirklichkeit das, was es nach der herrschenden Ideologie sein sollte. Unter den in der "westlichen" Gesellschaft wirksamen ideologischen Kräften sind noch immer die der christlichen Welt- und Lebensanschauung nicht die allerschwächsten, obwohl ihr Einfluß teilweise nur durch die Kanäle von Herkommen und Überlieferung geht. Andererseits muß das Christentum unter dem Gesichtspunkt einer empirischen Soziologie als eine der "ideologischen Mächte" angesehen werden, die miteinander um den bestimmenden Einfluß auf die Gestaltung der Gesellschaftsordnung ringen.(26) Philosophisch ist für Messner das Christentum bzw. die katholische Soziallehre(27) (selbstverständlich und) grundsätzlich keine Ideologie, weil dann Ideologie verstanden ist als ein von der wirklichkeitsbezogenen Wahrheit abweichendes Ideen- und Wertsystem. Nur für die empirische Soziologie ist jedes Ideen- und Wertesystem, das gesellschaftlich-ordnungspolitische Ansprüche erhebt, eine Ideologie.(28) Unter den anderen ideologischen Mächten sind besonders zu nennen die des Rationalismus, Liberalismus, Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus, Nationalismus, die Rassenkredos und allgemein hinter allen diesen Mächten der ihnen jedenfalls für lange Zeit gemeinsame materialistischsäkularistische Antagonismus gegen das Christentum.

In dem Umfang, in dem die ein Gesellschaftssystem bestimmenden ideologischen Kräfte von den wesenhaften Zwecken der menschlichen Natur abgehen, muß ein solches System versagen in der Verwirklichung des Gemeinwohls und daher in der Ermöglichung des wesenhaften Vollwohles aller Glieder der Gemeinschaft. "Wo indessen Folgerungen aus dem sittlichen Naturgesetz auf zeitbedingte Verhältnisse in Frage stehen, also das Urteil über die Formen ihrer Verwirklichung angesichts der konkreten Situation, kann die Berufung auf das Naturgesetz oder das Naturrecht ideologisch beeinträchtigt sein."(29) Doch die christliche Soziallehre sei eben nicht einfach Ideologie, "weil sei zutiefst naturrechtsverbunden ist."(30) "Die natürlichen Rechte und damit das Naturrecht ist ... ontologisch begründet, im Sein und in der Wirklichkeit der Menschennatur, wie sie sich der unmittelbaren menschlichen Erfahrung selbst darbietet."(31)Zu den gewaltigsten dynamischen Kräften im Leben und in der Entwicklung des Staates gehörten (soziologisch gesehen) die religiösen Glaubensüberzeugungen. Um sich den Einfluß religiösen Glaubens auf Leben und Entwicklung der Staaten zu vergegenwärtigen, braucht man nur an die großen Religionen der Menschheit denken, angefangen von der israelitischen mit ihrer Theokratie, an den Konfuzianismus, Buddhismus, Islam und vor allem an das Christentum, ganz zu schweigen von solch enger Verquickung von Religion und Staat, wie sie der japanische Shintoismus darstellte. Man wird dabei im ersten Augenblick vielleicht versucht sein, den Religionen hauptsächlich eine stabilisierende und retardierende Wirkung zuzuschreiben. Man braucht sich jedoch nur an die vom göttlichen Oberherrn befohlenen Strafexpeditionen gegen die Feinde Israels, an die Bekehrungskriege Karls des Großen, an den Heiligen Krieg der Mohammedaner (zu Beginn der Neuzeit und offensichtlich partikulär auch heute!), an Glaubenskriege wie den Dreißigjährigen Krieg, an die Kreuzzüge, an den Einfluß der Auseinandersetzung von Staat und Kirche auf die abendländische Staatsentwicklung zu erinnern, um zu ersehen, daß die der Religion entspringenden bewegenden Faktoren im Leben des Staates keine geringeren sind als die stabilisierenden. Die genauere Analyse dieser Einwirkungen der Religion ist Sache der Religionssoziologie.

Mit der Säkularisierung des Denkens seit dem Beginn der Neuzeit traten in der staatlichen Dynamik antireligiöse Glaubensmächte neben und in Gegensatz zu den religiösen Glaubenskräften auf, die diesen an Wirkkraft nicht nachstehen. Weil es sich dabei um Glaubensmächte handelt, die einen Anspruch auf die Formung des gesellschaftlichen Lebens erheben, müssen sie mit den religiösen Glaubensmächten, die den gleichen Anspruch erheben, in Konflikt kommen. Solche Konflikte kennzeichnen die Auseinandersetzungen über die staatliche und kirchliche Kompetenz im liberalen Staat des 19. Jahrhunderts, vor allem in Schul- und Ehefragen. Zu denken ist weiters an die ideologischen Grundlagen der Parteienbildungen in der freiheitlichen Demokratie. Ungleich größer sind die dynamischen Auswirkungen auf das Staatsleben, wenn eine ideologische Macht den monopolitischen, "totalitären" Einfluß auf eine Gesellschaft gewinnt. Das Ziel ist dann die Umformung der ganzen Ordnung der Gesellschaft nach ihren Prinzipien über Natur und Stellung des Menschen in der Gesellschaft und über die Sinngebung der Kultur überhaupt. Wir leben wohl in der weltanschaulich oder ideologisch pluralistischen Gesellschaft. Unter ihren zahlreichen Schattierungen heben sich zwei Hauptgruppen ideologische Überzeugungen heraus: die jedenfalls theoretisch christliche und die a-christliche. Man kann nicht sagen anti- oder widerchristlich, weil der heutige Liberalismus, der heutige Sozialismus und die heutige Aufklärung im Gegensatz zu früher sich der offenen Polemik gegen das Christentum und die Kirche auch immer wieder enthalten. Mit einem sog. wissenschaftlichen naturalistischen Humanismus, mit einer Form Wissenschaftsglaubens, versuchen starke Gruppen in Parteien und Verbänden der christlichen Auffassung vom Menschen, als Formkraft von Gesellschaft und Kultur, Boden zu entziehen. Das wird jenen Gruppen wesentlich erleichtert dadurch, daß die naturalistische Auffassung des Menschen seit Jahrzehnten beherrschend ist in der Belletristik, im Film, im Theater, in einem wesentlichen Teil der Presse, in manchen Ländern auf im Rundfunk und Fernsehen. Der sog. "wissenschaftliche" Humanismus sieht sich selbst durch drei Grundideen gekennzeichnet: die Idee der Menschenwürde und die Idee der Freiheit, wozu die Idee des Fortschritts kommt, begründet auf den Glauben an die wissenschaftliche Vernunft und ihre Fähigkeit zur Herbeiführung einer immer reicheren Lebenserfüllung des Menschen in den auf die Lebensspanne des Menschen bezogenen Werten. Tatsächlich gehen die beiden ersteren Ideen auf die christliche Anthropologie zurück mit ihrer Lehre von der Gottesebendbildlichkeit, die das Christentum aus dem Alten Testament übermittelt hat, und der Lehre von der Gotteskindschaft, die aus der Lehre Christi stammt. Nur durch gewaltige Anstrengungen in der Auseinandersetzung mit den neuen ideologischen Mächten wird das Christentum seine gesellschafts- und kulturformenden Kräfte neu entfalten können. Dies noch besonders, weil zum innergesellschaftlichen der internationale weltanschauliche Pluralismus hinzugekommen ist, in dem die alten Religionen einen neuen Öffentlichkeitsanspruch anmelden, aber auch neue nationalistische (und sozialistische sowie kommunistische) Ideologien sich als gesellschaftspolitische und weltpolitische Kräfte durchzusetzen suchen.(32)

Der Begriff "christliche Sozialreform" bezeichnet diesbezüglich die vom christlichen Gewissen geleiteten Bestrebungen zur Beseitigung der Schäden der sozialen Ordnung durch die Behebung der tieferen Ursachen(33) Wir sprechen von "christlich", weil die zugrunde liegenden Prinzipien durch die christliche Auffassung vom Menschen bedingt sind, vor allem durch die Glaubenslehren von der Schöpfung, dem Sündenfall und der Erlösung. Es ist der "christliche Humanismus", der dazu berechtigt, richtig und rechtverstanden von einem "christlichen Naturrecht", von "christlichen Sozialprinzipien" und von einer "christlichen Sozialreform" zu sprechen, auch wenn die Naturrechtslehre ihren Begriff der Menschennatur aus der Vernunfterkenntnis gewinnen muß und sich als sog. "christliches" Naturrecht sich in allem für ihren Begriff der Menschennatur Wesentlichen der in der Glaubenserkenntnis begründeten weiteren Gewißheit versichert wissen wird dürfen.(34) Der Ausdruck wird daher insbesondere nach Messner in den großen Fronten weltanschaulichen Denkens über den Menschen und die Gesellschaft, über Sittlichkeit und Recht, mit vollem Recht zu gebrauchen sein, um sich von den "naturalistischen" Lehren abzusetzen (von den szientistisch-naturwissenschaftlichen, dialektisch-materialistischen, logisch-positivistischen, biologisch-evolutionistischen, utilitaristisch-pragmatischen, idealistisch-monistischen). Im Bereiche jedoch der wissenschaftlichen Naturrechtslehre selbst ist eine Bezeichnung vorzuziehen, die ihre philosophische Grundlage im Verständnis der Menschennatur hervorhebt, zumal die Naturrechtslehre bekanntlich in ihrer philosophischen Entwicklung ganz wesentlich auf vorchristliches, also ausschließlich auf die Vernunfterkenntnis begründetes Denken zurückgeht, daher verwendet Messner lieber den Ausdruck traditionelle Naturrechtslehre.

In seinem berühmten schon 1933 in Erstauflage erschienenen Werk Die soziale Frage finden wir auch in der 6. Auflage 1956 das wichtige Kapitel über die christliche Gesellschaft(35), die ja - so denke ich jedenfalls - das Ideal-Ergebnis des gesellschaftsformenden Glaubens sein sollte. Messner wollte wenigstens ein skizzenhaftes Bild geben, nicht nur, weil der sein Denken an den christlichen Sozialprinzipien Ausrichtende sich eine Vorstellung von der christlichen Gesellschaft bilden möchte, sondern auch deshalb, weil im säkularisierten Denken mancher Gruppen der heutigen Gesellschaft unrichtige Vorstellungen und Befürchtungen über die Art und Ansprüche einer christlichen Gesellschaft bestehen. Solchen Befürchtungen gegenüber sei vorweg daran erinnert, daß für das auf die christlichen Sozialprinzipien begründete Denken das Rechtsbewußtsein und die Rechtsgrundlage der Gesellschaft in beträchtlichem Ausmaß entwicklungsbedingt sind und daß daher auch die christliche Gesellschaft in jeder neuen Zeit neue Züge tragen und neue Aufgaben stellen wird, daher keineswegs nur mit dem Blick in die Vergangenheit gedacht oder auch erstrebt werden darf. Andererseits darf nicht vergessen werden, daß es immer noch geschieht, daß bei "offiziellen" Gelegenheiten von "westlichen" Staatsmännern oft mit Betonung das Beiwort "christlich" beansprucht wird, mögen auch in weiten Teilen die religiösen Überzeugungen selbst geschwächt oder abgestorben sein.

Die Wesenszüge der christlichen Gesellschaft wird man kurz so umschreiben können: Es ist die Gesellschaft, die sich der dem Geist und den Forderungen des Christentums eigenen allseitigen Achtung der natürlichen Rechte sowie der von diesen Rechten bestimmten Grundordnung des Gemeinwesen verpflichtet weiß.(36)

Der oberste Verfassungsgrundsatz der christlichen Gesellschaft ist demnach die Heiligkeit des Rechts. Der Ordnung des natürlichen Rechts und der natürlichen Gerechtigkeit die Vollwirklichkeit zu geben und zu sichern ist die die Gesellschaftsordnung betreffende Grundaufgabe des Christentums. In der Tat, das Streben nach fester Begründung und immer weiterer Vervollkommnung der Ordnung der Gerechtigkeit ist doppelt Pflicht der christlichen Gesellschaft wegen der durch das Christentum neu vermittelten und neu gesicherten Einsicht in Wert und Recht der Persönlichkeitsnatur des Menschen und in den ganz und gar davon bestimmten Sinn und Zweck der Gesellschaft mit ihrer Rechtsordnung, ihrer Lebens- und Kulturordnung. Die Erfüllung aller anderen Aufgaben der christlichen Gesellschaft, ja auch die des Christentums und der Kirche selbst in dieser Gesellschaft, hängen ganz weitgehend von der Erfüllung dieser Grundaufgabe ab. Voll christlich ist ein Gesellschaft insoweit, als das gelebte Christentum sie allseitig mit seinen sittlichen Kräften durchwirkt und durchformt und damit auch ihr oberster Verfassungsgrundsatz der Heiligkeit des Rechts im christlichen Gewissen ihrer Glieder selbst verankert ist, mit anderen Worten, soweit in der Gesellschaft im ganzen das vom gelebten Christentum gefestigte sittliche Rechtsgewissen wirksam ist. (Darauf wird noch zurückzukommen sein.)

Die entscheidenden Kennzeichen dafür, wieweit eine Gesellschaft als christlich gelten kann, liegen bei der Familie: Eine Gesellschaft ist christlich in dem Umfang, als die Familie kraft ihrer Verwurzelung im christlichen Lebensgrund ihre Aufgabe als biologische, moralische und kulturelle Zelle der Gesellschaft erfüllt, auch alle ihre Rechte geachtet sieht, die ihr auf Grund dieser ihrer Aufgaben zukommen. Diesen Rechten entsprechen in der heutigen Gesellschaft Verpflichtungen von Gesellschaft und Staat zur Familienpolitik (worüber wir ausführlich gesprochen haben). Nichts ist indessen so lebenswichtig für die christliche Gesellschaft wie die Eigenkraft christlichen Lebens in der Zelle der Gesellschaft. Sie muß sich zuallererst in der Ehe erweisen wegen der gerade in ihr am unmittelbarsten hervortretenden Einheit des christlichen und natürlichen Sittengesetzes. In den Kindern wirkt durch die Familie jene Eigenkraft in die ganze Gesellschaft und ihre Kultur hinein. In dem, was die Kinder aus dem christlichen Lebensgrund der Familie empfangen, empfängt auch die christliche Gesellschaft das meiste, was ihr an Lebenskräften und Lebensformen Festigkeit und Zukunft geben kann. Dort werden Religion und Leben zu jener Einheit, deren Bedeutung schon den heidnischen Völkern im Bewußtsein der Verbundenheit von Herd und Altar kundtat und die für die christliche Gesellschaft doppelt feststeht, weil sich dem Zeugnis der Natur das unmittelbare Wort Gottes, des Schöpfers dieser Natur, verbindet, darüber, daß das natürliche Sittengesetz, wie es der Mensch in seiner Natur vorfindet, das Lebensgesetz der Gesellschaft ist und daß , damit dieses Lebensgesetz sich voll wirksam erweise, die der Erbschädigung durch die Ursünde verfallene Natur der heilenden Kräfte der Erlösung bedarf.

Nach der Familie kommt unter den natürlichen gesellschaftsformenden Kräften zu allererst das Volkstum. Familie und Volkstum bedingen sich in ihren ureigensten Lebenskräften gegenseitig. In ihnen hat die Kultur der Gesellschaft ihren Mutterboden, den Lebensgrund ihrer ursprünglichsten Wurzelkräfte. Denn bei Volkstum ist ja keineswegs nur an Brauchtum im engeren Sinne zu denken, sondern an die die Grundwerte des einzelmenschlichen und gesellschaftlichen Lebens betreffenden Überzeugungen und die darauf sich gründenden, in den gesellschaftlichen Lebensordnung und im kulturellen Ausdruckswillen sich auswirkenden Haltungen. Diese Überzeugungen und Haltungen bilden den geistig-sittlichen Einheitsgrund der Gesellschaft, lebend und fortlebend in der wechselseitig sich bedingenden Lebenseinheit von Familie und Volkstum: Volkstum ist ohne Muttersprache, Heimat ohne Heim, Vaterland ohne Vaterhaus nicht zu denken. Gleich wahr ist, daß ein Volkstum ohne Christentum keine Zukunft hat, wenn es sich seiner christlichen Vergangenheit zu entschlafen gewillt ist. Ein solches Volk ist doppelt gefährdet, weil es einen "Ersatz" für die verlorenen kulturellen Lebenskräfte nicht gibt. Denn das Volkstum ist Gemeinschaftsbereich, in dem Religion und Kultur, sittliche und gesellschaftliche Ordnung wurzelhaft verbunden sind, weshalb sich eine Gesellschaft an ihren Lebenswurzeln vergreift, wenn sie der Religion ledig sein zu können glaubt. Darum wird gelten müssen: Die Gesellschaft wird erst wieder christlich sein, wenn die Kirchen nicht nur äußerlich das Bild unserer Dörfer und Städte beherrschen, sondern wahrhaft Zeichen allseitig von ihnen ins einzelmenschliche und gesellschaftliche Leben ausstrahlender Kräfte sind.

Diese Kräfte würden der christlichen Gesellschaft mit dem dem Christentum eigenen Arbeitsethos und Berufsgedanken ihre Sozialordnung geben: die christliche Berufsidee mit dem ihr eingeschlossenen Bekenntnis zu den vom Schöpfer dem einzelnen vorgegebenen Aufgaben in Gemeinschaft und Einzelleben, sowie das christliche Arbeitsethos mit seiner Bindung der Arbeitsbeziehungen an die Gemeinschaftswerte und die Persönlichkeitswürde. Dieses Arbeitsethos und dieser Berufsgedanke fordern die Solidaritätsordnung in der gesellschaftlichen Arbeitsverbundenheit in Volkswirtschaft, Berufszweig und Einzelbetrieb (wie wir es ausführlich darzulegen versuchten). Diese drei sind die für den sozialen Frieden entscheidenden Punkte der Sozialordnung in der christlichen Gesellschaft. Friede und Freiheit würden in ihrer Sozialordnung Hand in Hand gehen. Denn nach den christlichen Sozialprinzipien wäre das weithin sichtbare Kennzeichen der christlichen Gesellschaft ein Höchstmaß von Freiheit im Rahmen einer sittlichen Lebensordnung. In der Tat, nicht zuletzt ist der Umfang von Zwangsbindungen, die notwendig sind, um die Gemeinwohlordnung zu gewährleisten, das Kennmal dafür, wie weit eine Gesellschaft davon entfernt ist, eine christliche heißen zu dürfen, ist doch schon den heidnischen Gesellschaften gesagt worden, daß die Völker mit den meisten Gesetzen nicht die glücklichsten sind.

Weil die Heiligkeit des Rechts ihr ungeschriebener Verfassungsgrundsatz ist, steht in der christlichen Gesellschaft auch die rechtliche Grundordnung der politischen Gemeinschaft unter dem Schutz des christlichen Gewissens. In der modernen demokratischen Gesellschaft ist diese Grundordnung, das Staatsgrundgesetz, auf die ausdrückliche Willensentscheidung des Staatsvolkes begründet. Diese Grundordnung empfängt in der christlichen Gesellschaft ihre verläßlichste Sanktion, nämlich die durch das sittliche Rechtsgewissen mit seinem Bewußtsein der unbedingten Verpflichtung gegenüber der auf die Vollachtung der gleichen Rechte und so auf die gleiche Mitverantwortung aller Staatsbürger begründeten Freiheits- und Gemeinwohlordnung. Das christliche Gewissen schützt daher als einen Hauptbestandteil dieser Ordnung vor allem auch die Prinzipien, auf deren Achtung Bestand und Entwicklung des freie demokratischen Gemeinwesens beruht, nämlich die Prinzipien, die seine politische Willensbildung nach den Forderungen des freien Einverständnisses der Staatsbürger mit ihren gleichen politischen Rechten ermöglicht. Die christliche Gesellschaft widersetzt sich daher dem unmittelbaren Eingriff in die staatliche Willensbildung im Widerspruch zu diesen Prinzipien durch staatliche oder gesellschaftliche Mächte. In ihrem Staat verbürgt die christliche Gesellschaft die persönlichen, politischen, zivilen und sozialen Freiheitsrechte im vollen Ausmaß der sich in der Natur des Menschen offenbarenden sittlichen Eigenverantwortlichkeiten und daher rechtlichen Eigenzuständigkeiten des Menschen: die Menschenrechte. Der Staat der christlichen Gesellschaft wird daher in seinem Schulwesen dem natürlichen Recht der Eltern auf die Bestimmung der Grunderziehung ihrer Kinder, das ist jener in religiöser und sittlicher Hinsicht, voll gerecht werden, also den Rechten der Eltern, die sich im Gewissen zur Erziehung der Kinder nach ihrem christlichen Bekenntnis verpflichtet wissen, wie den Rechten der Eltern, denen ihre Gewissen etwas anderer vorschreibt.

Aus den gleichen Gründen gehören die Pflicht der Toleranz und das Recht auf Meinungsfreiheit, wie sie Grundprinzipien der Freiheits- und Gemeinwohlordnung der freien Gesellschaft und ihrer Demokratie bilden, auch der Grundverfassung der christlichen Gesellschaft an. Damit ist das Ringen um die Ordnung des Gemeinwesens nach den im christlichen Gewissen begründeten Wertüberzeugungen und Wertzeilen vor allem verwiesen auf die Weckung von Kräften in der "Gesellschaft", die jenen Wertüberzeugungen und Wertzielen eine wachsende Geltung in der "öffentlichen" Meinung zu erwirken vermögen. Dabei weiß sich dieses Ringen der Gewißheit versichert, daß Wahrheit und Gerechtigkeit, in deren Diensten es steht, keinen stärkeren Bundesgenossen haben als die Freiheit der freien Gesellschaft selbst, solange diese niemandem Rechte entzieht, die sie ihren eigene Prinzipien gemäß allen in gleicher Weise zuzubilligen verpflichtet ist. Wohl bedeutet Toleranz für das christliche Gewissen nicht die Gleichwertigkeit aller religiösen Glaubens- und sittlichen Wertüberzeugungen, bedeutet vielmehr die soziale Tugend der Achtung der persönlichen Überzeugung des Gegners und die Vermeidung der persönlichen Verletzung des Gegners in der öffentlichen Auseinandersetzung und bedeutet die öffentliche Ordnung, die die Freiheit der religiösen Übung und die Freiheit der Vereinigung (Parteibildung) zur Einflußnahme auf Form und Inhalt der politischen Willensbildung gewährleistet. Ihre Schranke findet diese Toleranz nur in den Verpflichtungen zum Schutz des Gemeinwohls vor Mißbrauch der Freiheit, handle es sich um sittliche Wertgüter (öffentliche Sittlichkeit) oder um die Freiheitsordnung selbst (Bedrohung durch politische Umsturzbewegung). Engstens verbunden mit dem Prinzip der Toleranz ist das Recht auf die freie Meinungsäußerung in Wort, Schrift und Bild unter keinen anderen Beschränkungen als den eben umschriebenen. Angesichts des Meinungskampfes und des Freiheitsrisikos, die der freien Gesellschaft wesenseigen sind, wird eine Hauptsorge des christlichen Gewissens die Weckung des sittlichen Verantwortungsbewußtseins und der Erziehung zum sachlichen Urteil und dabei vor allem die Heranbildung einer an den Fronten aller einzelnen Gebiete des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens stehenden geistigen Elite sein. Das Ziel ist eine öffentliche Meinung, die selbst zum unnachgiebigen sittlichen Gewissen der Gesellschaft und ihres öffentlichen Lebens wird. Soweit dies der Fall ist, ist eine Gesellschaft christlich.

Eine Gesellschaft ist christlich, insofern und insoweit sie sich der Sendung der Kirche Christi öffnet. Das bedeutet ein Doppeltes. Erstens, daß die christliche Gesellschaft sich als solche und nicht nur in ihren Einzelgliedern Gott gegenüber verpflichtet weiß, für sie also die Religion eine öffentliche Angelegenheit und nicht nur Privatsache ist. Es bedeutet zweitens, daß die christliche Gesellschaft der Kirche die Rechte zubilligt, die ihr kraft natürlichen und göttlichen Rechtes zukommen. Dazu gehören die ihres Öffentlichkeitsanspruches als des Anspruchs auf die Anerkennung als öffentlich-rechtlicher, sich in ihrem Bereich zu eigenem Recht und in völliger Freiheit selbst verwaltender Körperschaft. Unter den einzelnen Rechte der Kirche wird der Staat der christlichen Gesellschaft ihre Erstzuständigkeit hinsichtlich der Ehe unter Christen anerkennen, die, weil Sakrament, bezüglich der Voraussetzungen, der Schließung, der wesentlichsten Wirkungen, der Trennung, der Gesetzgebungsgewalt der Kirche untersteht. Der Staat der christlichen Gesellschaft wird der Kirche auch in seinen Schulen ihr olles Recht auf religiöse und sittliche Erziehung der Kinder einräumen, die durch die Taufe Glieder ihrer Gemeinschaft geworden sind. Sofort ist aber klar, daß "unter den bestehenden Verhältnissen", nämlich in der Gesellschaft der politischen Demokratie, hinsichtlich der tatsächlichen Willensentscheidung des Staatsvolkes über Stellung und Rechte der Kirche im "Staate", über Zusammenarbeit oder "Trennung " von Staat und Kirche, das meiste vom Verantwortungsbewußtsein der "Gesellschaft" abhängt. Keinesfalls bedeutet die christliche Gesellschaft eine Aufzwingung gesellschaftlicher oder persönlicher Lebensordnungen unter Erhebung des Staates zum allgewaltigen Mittel im Dienste des Sendungsauftrages der Kirche oder gar von Herrschaftsansprüchen der Kirche im Gegensatz zum Wort Christi "Mein Reich ist nicht von dieser Welt". Ein Mittel von entscheidender Bedeutung für die Erfüllung des Sendungsauftrages der Kirche "unter den bestehenden Verhältnissen", nämlich der freiheitlichen und weithin säkularisierten Gesellschaft, ist ihre Wirksamkeit durch ihre Glieder in allen Bereichen des öffentlichen Lebens: des wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen. Es ist der Gedanke, mit dem Leo XIII. ihr Wirken "unter den gegebenen Verhältnissen", wie er sagt, in der Enzyklika Graves de communi (18. Jänner 1901) umschrieb: de einer christlichen Bewegung in der "Gesellschaft", "im Volk" mit dem Ziele der Ordnung des öffentlichen Lebens in allen den genannten Bereichen nach den Forderungen des christlichen Gewissens. Es ist der Gedanke, den Pius XI. in dem der "Katholischen Aktion" wider aufgriff. Danach ist die Formung und Führung des Gewissens der Glieder der Kirche hinsichtlich der sittlichen Ordnung des öffentlichen Lebens wesentlicher Teil ihres Sendungsauftrages und ist die Formung und Führung des öffentlichen Lebens aus dem Verantwortungsbewußtsein dieses christlichen Gewissens Sache der Glieder der Kirche, vor allem der Laien, in allen ihren Stellungen und Wirkungsbereichen der Gesellschaft. "Durch das Gewissen der Laien wird das göttliche Gesetz in die irdische Gemeinschaft eingeschrieben" (Pius XII. 20. Feb. 1946, vgl. Orbis Catholicus, 8. Jg. 1954/55, S. 236). Spannkraft und Spannweite dieses Wirkens aus dem Verantwortungsbewußtsein des christlichen Gewissens wird in den meisten Ländern die nähere oder fernere Erfüllung der Hoffnung auf eine allseitig in ihren Gemeinschaftsordnung lebendige christliche Gesellschaft entscheiden.

Für Messner ist also klar, wenn man die menschliche Existenz in ihrer Vollwirklichkeit sieht, dann ist die Verkehrtheit des Prinzips "Religion ist Privatsache" offenbar. Natürlich, das sich selbst genügende und autonome Individuum der individualistischen Theorie läßt keine Erstreckung seiner religiösen Existenz in die politische Gemeinschaft zu, und ebenso hat der Staat der kollektivistischen Theorie keinen Platz für die religiöse Existenz der Gemeinschaft, weil er sein eigenes Sein und seine eigenen Kollektivzwecke absolut setzt. Sobald man jedoch die menschliche Existenz in ihrer ganzen Wirklichkeit mit der Absolutheit ihrer existentiellen Zwecke im religiösen Bereich sieht, ist es evident, daß der Staat selbst auch eine religiöse Existenz hat, daß die Religion auch eine öffentliche Angelegenheit ist und daß der Staat nicht weniger als der Einzelmensch Pflichten gegen Gott, den Schöpfer seiner auf den Staat hingeordneten Natur, hat. Ein prinzipieller Säkularismus findet in der gesellschaftlichen Wirklichkeit ebensowenig eine Begründung wie etwa ein prinzipieller Anarchismus. Es gibt noch Staatsmänner, die ihren Staat noch als Gemeinschaft den Grundwerten der christlichen Kulturtradition verpflichtet sehen.

Ein solcher Staat, der sich infolge des gemeinsamen christlichen Bekenntnisses der überwiegenden Mehrheit seines Volkes an die Wahrheits- und Wertüberzeugungen dieses Bekenntnisses gebunden sieht, wird, wenn nicht in seiner Verfassung, so doch in seinem Verhalten, Gott als den Ursprung alles Rechtes einschließlich desjenigen der staatlichen Autorität anerkennen und damit die Heiligkeit und Unverletzlichkeit der natürlichen Rechte in allen Bereichen; er wird in seinem Eherecht dem sakramentalen Charakter der christlichen Ehe voll Rechnung tragen; er wird in seinem Schulwesen dem Recht der Eltern auf eine ihrer Überzeugung gemäße religiös-sittliche Erziehung ihrer Kinder entsprechen; er wird in den öffentlichen und den von ihm kontrollierten Eirichtungen nicht nur schädigende Einwirkungen auf die christliche Lebensanschauung seines Volkes verhindern, sondern positiv die in dieser wurzelnden Kulturideen zu fördern trachten; in seiner Außenpolitik wird er in einer Zeit der Bedrohung des christlichen Kulturerbes nach Möglichkeit seinen Einfluß zu dessen Schutz geltend machen und anderen Völkern, die im Kampfe um ihre christliche Existenz stehen, seine Hilfe in geeigneter Weise zukommen lassen.(37)

Die erörterten Prinzipien scheinen für Messner nur dann theoretisch unanfechtbar, wenn an einen Staat gedacht ist, dessen Volk einheitlich an einem christlichen Bekenntnis festhält. In der religiöse gemischten staatlichen Gemeinschaft kann der Staat nicht die Religion eines Volksteils bekennen und fördern, ohne das Gewissen der übrigen Bürger in ernste Konflikte zu bringen. Dies ergibt das Problem der Toleranz des Staates im religiösen Bereich, nämlich konkret 1. die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, 2. die Freiheit der Vereinigung auf der Grundlage gemeinsamer religiöser Pflichten und Interessen, 3. die Freiheit der Werbung für die Überzeugungen der eigenen Religionsgemeinschaft gemäß dem geltenden Recht der Meinungsäußerung.

Das Recht auf freie Religionsausübung ist eng mit dem der Gewissensfreiheit verbunden. Es ist ein unbedingtes Recht, insoweit die private Religionsausübung in Frage steht. Dagegen ist das Recht der öffentlichen Religionsausübung ein bedingtes, da keine Beeinträchtigung klarer Rechte anderer (wie etwa beim Menschenopfer) oder der öffentlichen Ordnung damit verbunden sein darf. Das Recht der freien Religionsausübung bedeutet einerseits: Niemand darf zu einer religiösen Übung, die seiner Überzeugung widerspricht, gezwungen werden, auch nicht, wenn es eine solche der wahren Religion wäre; andererseits: Niemand kann rechtlicherweise zu Handlungen gezwungen werden, die den Vorschriften einer religiösen Gemeinschaft widersprechen oder gegen die religiöse Gemeinschaft selbst gerichtet sind, zu der er zufolge des Geheißes seines Gewissens gehört.(38)

Das Recht des Menschen auf freie Religionsausübung ermächtigt ihn nicht, andere gegen ihre Überzeugung zu zwingen, sich seiner eigenen Religionsausübung anzuschließen, weil eben die (rechtliche) Vollmacht, die in diesem Recht liegt, nicht über den Zweck hinausgeht, in dem sie begründet ist.(39)

Die Kirche kann, ohne ihre Natur zu verleugnen, sich nicht in dem Sinn in den Dienst eines Staates oder einer Nation stellen, daß sie irgendwelchen anderen als den absoluten existentiellen Zwecken einen Vorrang einräumte; eine auf solche Vermischung der Zwecke begründete "Nationalkirche" macht sich zum Bestandteil und Mittel einer einzelnen politischen Gemeinschaf, während der Anspruch der Kirche in ihrer Sphäre nur ein universaler sein kann. Umgekehrt kann der Staat nie aus seiner Natur eine Berechtigung ableiten, das der Kirche durch ihre Mission vorgezeichnete Wirken einer auf das Staatsinteresse begründeten Kontrolle zu unterwerfen (Staatskirchentum). Daher ist am zweckdienlichsten eine einverständliche Regelung in jenen Sphären anzustreben, die sich berühren (Ehe, Schule, Erziehung).

Aus den oben entwickelten Prinzipien ergibt sich indessen doch auch eine direkte Zuständigkeit der Kirche im politische Bereich, nämlich soweit im Leben und in der Tätigkeit des Staates die absoluten existentiellen Zwecke des Menschen betroffen sind und daher der Sendungsbereich der Kirche in Frage steht. (Die Tatsache, daß eine namhafte Zahl von Nichtkatholiken auf Seite der Alliierten während des zweiten Weltkrieges die katholische Kirche heftig anklagten, weil sie von dieser Jurisdiktion nicht Gebrauch achte, zeigt einwandfrei, daß auch außerhalb der traditionellen Naturrechtslehre über die Tragweite der kirchlichen Jurisdiktion kein Zweifel besteht. Nur übersehen die Ankläger, daß es sich bei dieser Jurisdiktion der Kirche ausschließlich um die beste Wahrung der geistlichen Interessen aller ihrer Glieder unter den gegebenen Umständen handelt und eben nicht um politische Interessen.) Der direkte Eingriff in den Gewissensbereich, wie er z. B. durch Entbindung vom Treueid gegen den Fürsten im ungerechten Krieg möglich war, ist jedoch nicht der einzige Weg der Ausübung der Vollmacht der Kirche gegenüber dem politischen Bereich, wenn der religiöse oder sittliche berührt wird. Ein anderer ist der Aufruf der Gewissen durch die öffentliche Erklärung der Kirche über die Unvereinbarkeit politischer Prinzipien und Handlungen von Regierungen mit religiösen und sittlichen Rechten. Ein dritter, von der katholischen Kirche besonders zu pflegender Weg wäre die systematische Schulung der Laien für die Ausübung ihrer Verpflichtungen im bürgerlichen und beruflichen Leben, um dadurch eine erneute Wirksamkeit der religiösen und sittlichen Prinzipien in der säkularisierten Gesellschaft zu erzielen, von Pius XI. im erörterten Sinne definiert als "die in der Gesellschaft wirkende Kirche".

Es zeugt von der Größe und Kontinuität des Schaffen Messners, daß wir seine Sicht von "Glaube formt Gesellschaft" in einem Zitat aus dem Jahre 1929 über die Katholische Aktion zusammenfassen können: "Für die katholische Gesellschaftsauffassung besagt dies, daß ... das Katholische immer streben wird, von innen her diese Ordnung zu bestimmen und ihnen Form und Gestaltung zu geben, daß man darum ebenso sehr von einer Eigengesetzlichkeit des Katholischen sprechen kann, wie man von einer Eigengesetzlichkeit der profanen Kulturgebiete spricht, ja, daß im Sinne der katholischen Gesellschaftslehre, wesenhaft beide aufeinander bezogen sind, eine Bezogenheit, die im Verhältnis von Natur und Uebernatur immer ihre tiefste Erklärung finden wird"(40) "die Eigengesetzlichkeit des Katholischen soll sich wieder auswirken und mit ihren Kräften alle Ordnungen und Gebiete des öffentlichen Lebens durchwirken, bis sich wieder eine christliche Welt in ihrem ganzen öffentlichen Leben, in ihrem kulturellen und in ihrem wirtschaftlichen Streben, in ihrem politischen und sozialen Sein zu ihrem Gott bekennt."(41) Diesem Eigengesetzlichen des Katholischen bei der Formung der Gesellschaft wird wohl nachzugehen sein, allerdings wird dies nur auf gesunder naturrechtlicher Basis geschehen können.


Anmerkungen

  1. Cf. J. MESSNER, Kulturethik mit Grundlegung durch Prinzipienethik und Persönlichkeitsethik, Innsbruck - Wien - München ²1954, 383.

  2. Apologia, Ausg. 1865, 245, 253; Essays Critical and Historical, II. Bd., 1871, 96. (zit. nach Kulturethik, 386).

  3. T. S. ELIOT, Notes towards the Definition of Culture, 1948 (zit. nach Kulturethik, 388).

  4. J. H. NEWMAN, in einem Brief v. 2. 11. 1882, cf. W. WARD, The Life of John Henry Cardinal Newman, 1912, Bd. II, 486 (zit. nach Kulturethik, 391).

  5. J. MESSNER, Der Weg des Katholizismus im XX. Jahrhundert, Innsbruck - Wien - München 1929 (= "Neues Reich"-Bücherei Nr. 6), 30.

  6. Weg des Katholizismus, 32.

  7. Weg des Katholizismus, 34.

  8. Weg des Katholizismus, 35.

  9. Weg des Katholizismus, 36.

  10. Cf. J. MESSNER, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, Innsbruck - Wien - München 5/1966, 115 f.; in der Anm. 1 erinnert Messner z. B. an die Enzyklika QA, nn. 31 - 43, nach welcher die Kirche keinerlei Autorität im Bereich der Technik oder im reinen Bereich der konkreten Mittel im ökonomischen Leben habe, jedoch sehr wohl in allen Fragen, die das Moralgesetz berühren.

  11. Der Begriff "Katholizismus" soll die in der Welt wirksame Erscheinung des katholischen Glaubens in seiner Geschichtsmächtigkeit zum Ausdruck bringen, getragen von identifizierbaren sozialen Gruppen und Einzelpersonen, die nicht mit der verfaßten Kirche und ihren leitenden Amtsträgern identisch sein müssen. Seine Träger verstehen ihn auch als Erfüllung des kirchlichen Sendungsauftrages "Sozialkatholizismus ist, sofern Sozialreform eine gesellschaftspolitische Zielsetzung darstellt, eine Art des 'politischen Katholizismus', der sich auf bestimmte Anliegen ... konzentriert." (H. SCHNEIDER, <Katholizismus>, in: A. KLOSE/W. MANTL/V. ZSIFKOVITS [Hrsg.], Katholisches Soziallexikon, Innsbruck - Wien - München ²1980, 1324) Da der jeweilige Katholizismus sein Gepräge daher findet, daß seine Träger einer je spezifischen Gesellschaft (Kultur, Geisteslage, soziopolitische Problematik) zugehören und zugleich eine christliche Antwort auf ihre Problemlage geben wollen, sind Gehalt und Gestalt des Katholizismus dem Wandel ausgesetzt und können in ihrer Sonderart nicht unkritisch für andere Kulturlagen und veränderte Konstellationen als verbindlich gelten.

  12. Weg des Katholizismus, 11 f.

  13. Weg des Katholizismus, 21.

  14. Weg des Katholizismus, 53.

  15. Der Weg des Katholizismus, 16.

  16. Weg des Katholizismus, 64 - 67.

  17. Ein völlig spiritualistisches Christentum vertrat z. B. N. BERDJAJEW, besonders in seinem letzten nachgelassenen Werk: Truth and Revelation, 1953; er fordert ein ganz und gar "prophetisches" Christentum, ohen jegliche "Objektivierung" des religiösen Gewissens in den gesellschaftlich-kulturellen Ordnungen, ja ohne rechtliche und politische Symbole, wie Lohn, Strafe, vor allem ohne Autorität.

  18. An einem entschiedenen Punkt der Entwicklung der westlichen Kultur trat der spiritualistische Irrtum mit unheimlicher Kraft auf: in der Armutsbewegung des Mittelalters. Die führende Gruppe strebte damals schon nach dem "reinen" Christentum, wovon ihr Name "Katharer" stammt. Sie wollten mit ihrer Verwerfung von "Reichtum", Besitz und Gewinnstreben die Armut zu einem Ideal der Kulturethik machen. Es ist das historische Verdienst des hl. Franz von Assisi, demgegenüber die Armut als ein Ideal der Persönlichkeitsethik verstanden und zugleich auch mit seiner Ordensgründung zu einer Kraft in der Kulturentwicklung des Westens selbst gemacht zu haben.

  19. Die Krisis des abendländischen Menschentums, 1927, 37.

  20. Signes de Temps (Zeitschrift der Dominikaner), Oktober 1929 (?), 2.

  21. Das Naturrecht, 142.

  22. Das Naturrecht, 501.

  23. Cf. Das Naturrecht, 502.

  24. Cf. Das Naturrecht, 479.

  25. Cf. Das Naturrecht, 480.

  26. Cf. Das Naturrecht, 482.

  27. Nach R. WEILER bezeichnet die katholische Soziallehre "zumeist die wissenschaftlich begründeten (Lehren!), systematisch dargelegten und im Leben der Kirche allgemein vertretenen Auffassungen zur Gestaltung der Gesellschaft (aus christlicher Verantwortung und aufgeklärtem Gewissen)." (Die soziale Botschaft der Kirche. Einführung in die katholische Soziallehre, Wien 1993 [= Schriftenreihe des Institutes für Sozialpolitik und Sozialreform {Dr. Karl Kummer-Institut}, Neue Folge, 2], 10) Sie möchte u. a. allen Menschen guten Willens einen Sinnentwurf für eine gerechte Ordnung des menschlichen Zusammenlebens als Voraussetzung für richtiges konkretes handeln bieten.

  28. Cf. J. MESSNER, Christliche Soziallehre unter Feuer, in: J. MESSNER, Ethik und Gesellschaft. Aufsätze 1965 - 1974, Köln 1975 (= Veröffentlichungen der Katholischen Sozialwissenschaftlichen Zentralstelle Mönchengladbach), 385 f. (bereits 1966 veröffentlicht). - Cf. a. a. O., 389: "Daß allerdings christliche Soziallehre der ideologischen Verfärbung entgehen soll, kann nur annehmen, wer mit der Wissenschaftssoziologie und der ihr zugehörigen Ideologiekritik nicht vertraut ist. Denn für sie steht es wissenschaftlich fest, daß keine Gesellschaftslehre, welcher Art immer, der Beeinflussung durch die geschichtlich gegebene gesellschaftliche Verumständung zu entgehen vermag."

  29. Christliche Soziallehre, 390; vgl. a. a. O., 389: Messner nannte als Beispiel (wiederum) eine naturrechtlich begründete Verbindung von "Thron und Altar".- Cf. Das Naturrecht, 341 f.: Gerne wird auf einen (inneren) Gegensatz innerhalb der (sog.) "christlichen Naturrechtsdoktrin" hingewiesen, nämlich auf die Ablehnung der absoluten Gewissensfreiheit und Meinungsfreiheit durch Papst Gregor XVI., andererseits auf die fast zur gleichen Zeit erfolgte Anerkennung der Religionsfreiheit und kirchlichen Parität in Deutschland durch Bischof v. Ketteler "unter den gegebenen Verhältnissen". Was diese Gegensätzlichkeit, aber auch die Unterschiedlichkeiten in der Haltung kirchlicher Stellen zur Frage der Staatsform angeht, so dürfte heute innerhalb und außerhalb der Naturrechtslehre zugegeben sein, daß es nicht eine ein für allemal gültige Konkretisierung von Naturrechtssätzen wie überhaupt von allgemeinen Rechtssätzen geben kann. Weil situationsbedingt, wird die Geltungsweise der naturrechtlichen Prinzipien für die für die Regelung der Schulfrage im Verhältnis der Konfessionen eine von Land zu Land verschiedene Form annehmen, besonders wenn die Verhältniszahlen der Religionszugehörigkeit oder die Lagerung der politischen Machtverhältnisse nur Kompromißlösungen möglich machen.

  30. Christliche Soziallehre, 390.

  31. Christliche Soziallehre, 391 f.

  32. Cf. Das Naturrecht, 951.

  33. Cf. J. MESSNER; Die soziale Frage im Blickfeld der Irrwege von gestern, der Sozialkämpfe von heute, der Weltentscheidungen von morgen von Dr. jur. utr., Dr. oec. pol. Johannes Messner, Professor der Ethik und Sozialwissenschaften an der Universität Wien, Innsbruck - Wien - München 6/1956, 293.

  34. Cf. Das Naturrecht, 471 f.

  35. Cf. Die soziale Frage, 602 ff.

  36. Cf. Die soziale Frage, 602.

  37. Cf. Das Naturrecht, 875 ff.

  38. Cf. Das Naturrecht, 437.

  39. Cf. Das Naturrecht, 227.

  40. Weg des Katholizismus, 34.

  41. Weg des Katholizismus, 36.


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(Padre Alex)